Friedensgebetsausstellung
Kommen Sie in die Nikolaikirche und erleben Sie in der Südkapelle die Dauerausstellung über die montäglichen Friedensgebete! Unter dem Motto „Gottesdienst im Alltag der Welt“ gibt es ein Abriss von den Anfängen 1982 in der DDR bis in die Gegenwart.
Die Friedensgebete finden bis heute jeden Montag 17 Uhr in der Nikolaikirche statt. 1989 hatten sie maßgeblich zur friedlichen Revolution beigetragen. Sie waren Ausgangspunkt für die friedlichen Demonstrationen gegen die Willkür des SED-Regimes. Noch immer werden bei den Friedensgebeten regelmäßig neben sozialen auch gesellschaftspolitische Themen in den Fokus gestellt.
Die Ausstellung thematisiert neben den zeitgeschichtlichen Ereignissen auch die geistlichen und theologischen Quellen dieses Gottesdienstes im Alltag der Welt. Texte, Bilder und Archivmaterialien geben eine Überblick über die Entstehung, den theologischen und politischen Hintergrund sowie die Bedeutung der Friedensgebete.
Hier finden Sie die Texte der Ausstellung zum Nachlesen
Gottesdienst im Alltag der Welt – Die Friedensgebete in der Nikolaikirche
Die Friedensgebete von St. Nikolai und die Friedliche Revolution 1989 sind untrennbar miteinander verknüpft. Schon die Namen beider verweisen auf das, was sie im Innersten verbindet. Doch wäre es zu kurz gegriffen, die Friedensgebete auf diesen einen, wenngleich dramatischen geschichtlichen Höhepunkt zu reduzieren.
Oft verkannt und verraten, ist der Friede unter den Menschen, der Friede zwischen den Völkern schon immer ein zentrales Thema verschiedener Religionen und Konfessionen. In Konsequenz dessen verschafften sich im Bedrohungsszenario des Kalten Krieges der 1970er Jahre in den Kirchen Friedensinitiativen mehr und mehr Gehör. Das ungeheure atomare Wettrüsten zwischen Warschauer Pakt und NATO, von der Staatsführung der DDR propagierte Feindbilder sowie eine forcierte Militarisierung des Alltags bis in den Schulunterricht hinein riefen in der DDR-Bevölkerung Verunsicherung, zunehmend aber auch Unmut hervor.
In dieser Lage rief die Jugendarbeit der evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten 1980 erstmals gemeinsam zu einer blockübergreifenden Friedensdekade auf. Zehn Tage mit täglichen Diskussionsforen, Aktionen und Friedensgebeten wurden im November 1981 in Leipzig wie auch andernorts zur Inspiration. Hieraus entstanden die Andachten, die seit 1982 Montag für Montag in St. Nikolai stattfinden. Von Beginn an zogen sie Christen wie auch Nichtchristen an, die unter den Problemen der DDR-Gesellschaft litten und sich um die Zukunft sorgten. Das Gebet um Frieden im weiter gefassten Sinne entwickelte sich so zu einem Treffpunkt kritischer junger Menschen.
Im theologischen Zentrum der Friedensgebete an der Nikolaikirche steht seit Beginn die Bergpredigt Jesu – und darin vor allem die Seligpreisungen (Matthäus 5, V. 3-10). Diese Ausstellung rückt die geistlichen und theologischen Quellen in den Mittelpunkt, aus denen die Friedensgebete seit Beginn schöpfen und aus denen sie sich immer wieder erneuern.
Das Gebet um Frieden und die Arbeit am Frieden sind nach der Friedlichen Revolution 1989 alles andere als erledigt. Hunger und bittere Armut, Unterdrückung, Gewalt, Krieg und Terror sowie Umweltzerstörung und Klimawandel machen deutlich, dass die Menschheitsaufgaben Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung heute aktueller denn je erscheinen.
Doch zeigen die Friedensgebete immer neu, welche Kraft, welche Hoffnung und welche Ermutigung zu verantwortlichem Handeln aus der Botschaft Jesu erwachsen.
Zur Freiheit berufen – Kirche für andere
Die Situation der Kirchen in der SED-Diktatur war ambivalent, prekär, doch nicht ohne Chancen. Als einzige nicht in das Staatsgefüge integrierte Organisationen hatten sie keinen rechtlich gesicherten Status und waren in politisch gewollter Unsicherheit zu allen Zeiten Willkür und Pressionen ausgesetzt. Andererseits verfügten sie in ihrer partiellen Autonomie über manche Freiheiten, die – zumal in den 1980er Jahren – zu einer unersetzlichen Ressource für oppositionelle Bestrebungen wurden.
Auch nach Anerkennung des Bundes der Evangelischen Kirchen durch die SED 1971 blieb das Verhältnis zwischen Kirche und Staat problembelastet; selbst in Phasen einer Entspannung hörte die Benachteiligung und Unterdrückung von Christen nie ganz auf. Wie die Kirche ihren schwierigen Weg zwischen unkritischer Anpassung und bloßer Verweigerung suchen sollte, darum wurde in langen kontroversen Diskussionen unter anderem über die Formel Kirche im Sozialismus gerungen.
In seinem Vortrag: Christus befreit – darum Kirche für andere trat Heino Falcke vor der Synode des Kirchenbundes in Dresden 1972 für eine kritische Solidarität der Kirchen in der Gesellschafft ein; das Evangelium sei wesentlich als Befreiungsbotschaft zu begreifen.
Zur Freiheit seid ihr berufen (Galaterbrief 5, 13). (…) Diese Freiheit führt Christen und Kirche in mündige Mitverantwortung zum Eintreten gegen Missstände sowie zum aktiven Dienst an Mensch und Gesellschaft. (…) Für andere da zu sein, heißt solidarisch werden mit den Leidenden.
Im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer wird damit die Verantwortung und der Dienst der Kirche für andere als geistliche, ethische und nicht zuletzt auch politische Herausforderung beschrieben.
Die Aufgabe, gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu kämpfen, bleibt auch in unserer Gesellschaft, denn die Geschichte steht unter dem Kreuz. Aber diese Aufgabe ist sinnvoll, denn die Geschichte steht unter der Verheißung des befreienden Christus. (…) Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen.
Falckes ungeschminkte Kritik, dass der real existierende Sozialismus die Menschen enttäuscht habe und verbesserlich sei, empörte die Staatsmacht ebenso wie seine Forderung nach politischer Einmischung und einer staatsunabhängigen Öffentlichkeit.
So könnte es in der Kirche eine kritische Öffentlichkeit, eine Stätte des freien Wortes, eine Offenheit für radikale Fragen und angstfreie Lernbereitschaft geben. Das wäre ein eminent wichtiger Beitrag zur mündigen Mitverantwortung in der Gesellschaft.
So wurde Falcke nicht nur mit seinen 1978 in Erfurt begründeten wöchentlichen Friedensgebeten, die im Beten und Tun des Gerechten eine Spiritualität des Protestes zu verwirklichen suchten, zu einem wichtigen Impulsgeber auch für die Leipziger Nikolaikirche.
Streit um Frieden
Unter dem Eindruck des Wettrüstens zwischen Ost und West formierten sich seit den frühen 1970er Jahren in beiden deutschen Staaten Friedensinitiativen in stark anwachsender Zahl zu einer zum Teil blockübergreifenden Friedensbewegung. Auch in der evangelischen Kirche war – in klarer Abgrenzung gegen die staatlich verordnete Ideologie – die Frage des Friedens auf allen Ebenen das Thema dieser Jahrzehnte.
Klassenkampf als Friedenspolitik
Die ostdeutsche Realität diktierte dabei ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, was auch mit der Verortung der Akteure zu tun hatte. Während in der Bundesrepublik die oppositionell gesinnten Friedensaktivisten sich politisch ganz überwiegend im linksalternativ-ökologischen Spektrum wiederfanden, schienen in der DDR auf den ersten Blick die Rollen vertauscht.
Die SED erklärte den Sozialismus sowjetischer Prägung zur Friedenspolitik schlechthin und definierte sich als die wahre Garantin des Friedens – gleichwohl sie der Rüstungsspirale die gegengleiche Drehrichtung zu der ihrer Gegenspieler im Westen gab. Nach dieser Logik war der Klassenkampf der normative Weg zum Frieden. Seine Grundlage war eine Ideologie des Feindbildes und der Militarisierung des Denkens und der Gesellschaft. Wer dem widersprach, stellte zugleich den Führungsanspruch der Partei in Frage, galt als reaktionär bzw. feindlich-negativ und geriet ins Visier der Staatsorgane.
Auch ganz praktisch war die Ausgangssituation für Friedensaktivisten in der DDR schwierig. Einzig unter dem Dach der Kirche konnte man sich ohne Genehmigung des Staates versammeln. Nur hier boten sich Möglichkeiten zu offenem Dialog und zur Einübung demokratischer Diskussionskultur.
Bausoldaten und Friedensdienst
Frühe Kristallisationskerne der Friedensbewegung waren Kreise der Wehrdienstverweigerer. Totalverweigerern waren schwere Sanktionen bis hin zu mehrjähriger Haft gewiss. Größere Bedeutung kam allerdings den Bausoldaten zu. Sie leisteten einen waffenlosen Wehrdienst in den Baueinheiten der Volksarmee. Diese einzig legale Chance, den Dienst an der Waffe zu vermeiden, war gleichwohl mit Schikane und schweren Benachteiligungen verbunden.
Aktive und ehemalige Bausoldaten vernetzten sich inner- wie außerkirchlich in lokalen Friedensdienst-Kreisen, landesweiten Treffen und Friedensseminaren. Sie erstellten Materialien zu Wehrdienstfragen und Friedenserziehung und führten unzählige Informations- und Diskussionsveranstaltungen in interessierten Gemeinden durch. Viele von ihnen traten später als Initiatoren und Träger von Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen in Erscheinung.
Sozialistische Wehrerziehung oder Erziehung zum Frieden?
Im Frühjahr 1978 sickerten Pläne der SED durch, an polytechnischen Oberschulen das Pflichtfach Sozialistische Wehrerziehung einzuführen, was spontane Proteste der Kirchen nach sich zog. Stimmen wurden laut, die DDR solle ihrem Anspruch, ein Staat des Friedens zu sein, vielmehr dadurch Ausdruck verleihen (…), dass sie an den Schulen ein Fach‚ Erziehung zum Frieden‘ einführt. Darin sollten Ergebnisse der Friedensforschung, Fragen der Entspannung oder der ethischen Bewältigung des Soldatenberufes vermittelt werden. Als die SED an der Wehrerziehung festhielt, setzte die Kirche ein deutliches Signal dagegen. 1980 legte sie ein anspruchsvolles Programm einer Erziehung zum Frieden auf, das enorme Breitenwirkung entfaltete. Friede sei danach kein Zustand, sondern ein kritischer Prozess. Ein Handeln auf Hoffnung hin suche in konkreten Problemen vorhandenen Unfrieden zu verringern und damit Raum für gelingenden Frieden zu schaffen. Das Programm setzt auf Kritik und Veränderung. In der politisch erstarrten DDR schien es geeignet, Unruhe zu stiften. In der Tat folgten der Wehrerziehung Massenproteste der jungen Generation auf dem Fuß.
Ein Thema, das bis zum Ende der DDR virulent blieb, war die Initiative für einen Sozialen Friedensdienst (SoFD), einen zivilen Wehrersatzdienst etwa in Pflegeheimen. Obwohl die Kirchenleitungen, um eine schärfere Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden, von dem anfangs unterstützten Anliegen abrückten, blieb das Thema auf der Agenda einer sich herausbildenden Opposition.
Mit dem Nachrüstungsbeschluss der NATO vom Dezember 1979 und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan war absehbar, dass nicht nur das Wettrüsten weiterging und die Gefahr militärischer Konfrontation stieg, sondern dass sich auch die innergesellschaftliche Militarisierung in der DDR fortsetzen würde, gegen die sich immer mehr Proteste formierten.
Anfänge der Friedensgebete – Schwerter zu Pflugscharen
Die Friedensgebete gehen auf die Friedensdekaden zurück, die erstmalig im November 1980 unter dem Motto Frieden schaffen ohne Waffen stattfanden. Als Symbol wählte man dazu ein Bild aus der Bibel: Schwerter zu Pflugscharen (Micha 4,1–4).
1981 wurde davon ein auflagenstarker Textildruck in Auftrag gegeben, der als Aufnäher sichtbar an der Kleidung getragen werden konnte. Bald waren davon weit über 100.000 im Umlauf. Niemand rechnete damit, dass das Symbol beanstandet werden würde, schließlich war das Bild des Denkmalgeschenks der UdSSR an die UNO schon mehrfach publiziert worden und sogar im aktuellen Geschenkbuch zur Jugendweihe abgedruckt. Rein formal verband es geschickt die christlich-biblische Vision sowie die daraus begründete ethische Haltung mit dem erklärten Ziel sozialistischer Friedenspolitik.
Dennoch entwickelte der Aufnäher eine unvorhergesehene Eigendynamik, platzte seine Verbreitung doch in eine Situation, in der staatlicherseits Bedrohungsängste extrem geschürt worden waren. Hinzu kam, dass die Bevölkerung der ständigen Militarisierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen überdrüssig war. Vor allem Jugendliche trugen den Aufnäher als Zeichen des Protestes. Ab Januar 1982 war das Tragen der Aufnäher an Bildungseinrichtungen verboten, oftmals wurden sie gewaltsam entfernt. Dennoch blieb das Symbol und die damit verbundenen Ereignisse fester Bestandteil der oppositionellen Friedensbewegung.
Der Geist war aus der Flasche: Vielerorts gab es nun außerhalb der Friedensdekaden Friedensgottesdienste, Bluesmessen und Friedensandachten, die die Frömmigkeit mit sozialen und politischen Erfahrungen und Hoffnungen verbanden – eine Verbindung, die die Organe der Staatsmacht weder verstanden noch in ihrer Kraft einzuschätzen vermochten, die sie aber als Bedrohung empfanden.
In Leipzig-Probstheida trafen die Junge Gemeinde der 15- bis 19-Jährigen und der Bibelkreis der Senioren ungeplant zusammen und nutzten das zum Gespräch. Die Alten fragten, warum die Jugend mit den Aufnähern Schwerter zu Pflugscharen die Staatsmacht provoziert und damit Schul- und Karriere-Abbrüche, Verfolgung und unter Umständen sogar Haftstrafen riskiert. Die Antwort war: Der DDR-Staat wird zunehmend militanter, im Wehrkundeunterricht wird massiv für eine Verpflichtung zur Armee geworben, ohne die oft Abitur und Studium nicht mehr möglich sind. Am Ende der lebhaften Diskussion stand die Idee: Denken, Handeln und Beten für den Frieden! Ein Friedensgebet soll es sein.
Schnell war die Nikolaikirche mit ihrer zentralen Lage als Örtlichkeit ausgemacht und der Montag als erster Arbeitstag nach dem Wochenende. Der Zeitpunkt 17 Uhr gab die Möglichkeit, nach Arbeitsschluss am Friedensgebet teilzunehmen. Damit sollte eine breitere Öffentlichkeit geschaffen werden.
So traten die Jugendlichen im März 1982 mit ihrem Diakon Günther Johannsen an Superintendent Friedrich Magirius heran. Der Kirchenvorstand St. Nikolai erklärte sich einverstanden, und so fand am Montag, den 20. September 1982 das erste Leipziger Friedensgebet außerhalb der Friedensdekade statt. Als Signet dafür wählten sie: Schwerter zu Pflugscharen! Die großformatige Tafel steht bis heute in der Nikolaikirche.
Das Gebet um Frieden wurde zum Treffpunkt kritischer junger Menschen. Bald wurden diese ohne ordinierte Theologen begonnenen Andachten auch von weiteren politisch und gesellschaftlich engagierten Gruppen, sogenannten Basisgruppen, gestaltet.
Gerechtigkeit – Frieden – Bewahrung der Schöpfung
Global denken – lokal handeln: der Konziliare Prozess und die aus ihm hervorgehende Ökumenische Versammlung verwirklichten dieses Kernanliegen des Prozesses idealtypisch, denn zunehmend rückten Umweltfragen und die gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besonders in den Blick. Das Themenspektrum der Friedensgebete erweiterte sich auf die Trias Frieden – Gerechtigkeit – Bewahrung der Schöpfung. Immer deutlicher trat die unlösbare Verzahnung dieser drei Herausforderungen zutage: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit, keine Schöpfungsbewahrung ohne Frieden.
In Sorge vor der Bedrohung durch einen atomaren Krieg brachten die Vertreter der DDR-Kirchen in die VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 den Antrag ein, ein weltweites Konzil des Friedens vorzubereiten. Angesichts des zeitnah nicht zu erreichenden Ziels einigte man sich auf einen Konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Auf Ebene der Kontinente und weltweit stellte man sich unter Bezug auf theologische Grundlagen der Kirchen globalen Herausforderungen wie der Verhinderung von Gewalt und Krieg, Abrüstung, dem Kampf gegen Ungerechtigkeit, Hunger, Armut und Umweltzerstörung.
Politische Sprengkraft für die DDR gewann dies durch den Impuls des Stadtökumenekreises Dresden, den globalen Prozess vor Ort zu beginnen und auf das eigene Land zu beziehen. Inmitten von politischer Stagnation, galoppierenden wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Problemen und einer weitverbreiteten Mentalität des Rückzugs in private Nischen lud die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen mit dem Aufruf: Eine Hoffnung lernt gehen alle Kirchen, Gemeinden und politisch engagierten Gruppen ein, sich am Aufbruch zu beteiligen.
Der Aufruf fand große Resonanz. Landesweite Ökumenische Vollversammlungen in Dresden (Februar 1988) und Magdeburg (Oktober 1988) bündelten an die 10.000 aus Diskussionen im ganzen Land eingegangenen Beiträge und gaben sie zur Weiterarbeit zurück.
Nicht von ungefähr befürchtete das Zentralkomitee der SED, dass hier eine politisch feindliche Plattform zurechtgezimmert werden könnte. Die dritte Vollversammlung im April 1989 in Dresden verarbeitete 1.400 weitere, zum Teil sehr ausführliche Stellungnahmen und fasste, mitunter in hartem Ringen, die Ergebnisse zusammen. Insbesondere die zwölf Ergebnistexte mit ihren profunden Analysen und durchdachten Forderungen und Vorschlägen fanden große öffentliche Beachtung. Teilnehmer, Berater und Freunde der Versammlung wirkten als Multiplikatoren bis weit in den politischen Bereich hinein. Einige von ihnen gründeten im September/Oktober 1989 politische Aktionsbündnisse und Parteien oder prägten sie mit (Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie jetzt, SDP).
Konflikt und Aufbruch
Im Horizont des Konziliaren Prozesses wurde 1985 ein eigenes Gremium eingesetzt, der Synodalausschuss für Frieden und Gerechtigkeit. Im September 1986 übernahm Christoph Wonneberger, Pfarrer an der Lukaskirche, die Koordination der Friedensgebete; er knüpfte Kontakte zu den aktiven Gruppen und ermunterte zu politischem Engagement.
Die Reformideen des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), lösten in der DDR ein gespaltenes Echo aus: Je entschiedener die reformunwillige SED sie ablehnte, umso begeisterter reagierte vor allem die Generation der unter 25-Jährigen. Konflikte bahnten sich an. Im November 1987 stürmte die Staatssicherheit die Umweltbibliothek an der Zionskirche Berlin, einem bedeutenden Treffpunkt oppositioneller Gruppen aus der ganzen DDR. Bei unangemeldeten Protesten anlässlich des Luxemburg-Liebknecht-Gedenkmarsches im Januar 1988 kam es in Berlin zu Massenverhaftungen. All das schlug auch in den Friedensgebeten hohe Wellen.
Unterdessen hatten viele Ausreisewillige die Friedensgebete für sich entdeckt. Da sie das Land verlassen wollten, kam es bald zu Interessenskonflikten mit jenen, die sich fürs Bleiben entschieden hatten und sich für Veränderungen im Land einsetzten. Dieses Problem griff Nikolaipfarrer Christian Führer im Februar 1988 in einem Vortrag mit dem Titel: Leben und Bleiben in der DDR auf. Darin schloss er mit einem sehr persönlichen Appell: Wer sonst könnte in diesem Land etwas ändern, wenn nicht wir, die wir »von hier« sind? Manchen schwebt die politische Vision eines verbesserlichen Sozialismus« vor. Man wird sehen. Ich jedenfalls habe in meinem ganzen bisherigen Leben immer wieder erfahren: Kämpfen lohnt; der Kleinglaube wird beschämt.
Seit jenem Abend, zu dem statt der erwarteten 50 rund 600 Zuhörer gekommen waren, kamen nun jeden Montag 500 bis 1000 Menschen zum Friedensgebet. Mehr und mehr nahm dieses Charakterzüge eines politischen Forums an, inklusive Stellungnahmen Einzelner und lautstarker Zwischenrufe. Zum Eklat kam es, als Ende Juni 1988 nicht abgesprochen eine Kollekte für einen zu einer hohen Geldstrafe verurteilten Oppositionellen gesammelt wurde.
Superintendent Friedrich Magirius enthob darauf in Christoph Wonneberger seiner Funktion als Koordinator der Friedensgebete. In einem Brief an die Basisgruppen kündigte er an, dass Durchführung und Verkündigung der Friedensgebete künftig von der Nikolaigemeinde übernommen würden. Einige Basisgruppen sahen sich ins Abseits gedrängt. Es folgten heftige Proteste und tumultartige Szenen im Friedensgebet. Magirius wurde Zensur vorgeworfen; der begründete sein Handeln mit einer Gewissensentscheidung: Teile der Friedensgebetsgemeinde seien nicht an Fragen des Konziliaren Prozesses interessiert. Die Verkündigung der biblischen Botschaft gelte jedoch Allen gleichermaßen – Hierbleibenden wie Ausreisewilligen. Der Gottesdienstcharakter der Friedensgebete müsse gewahrt bleiben.
Nach langwierigen Verhandlungen gelang dennoch ein Kompromiss und auch die Kritiker beteiligten sich nach Bestätigung der Kompromisslinie durch den Kirchenvorstand ab April 1989 wieder am Friedensgebet. Es blieb allerdings bei der seit Frühjahr 1988 obligatorischen Verantwortlichkeit eines ordinierten Theologen und auch dabei, dass biblische Texte nach Wahl der mitgestaltenden Gruppen eingebracht wurden, mit dem Ziel der religiösen Verarbeitung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Der Kirchenvorstand behielt sich das Recht der Begrüßung der Friedensgebetsgemeinde sowie der Verlesung gemeinsam beratener Informationen über aktuelle Fragen vor, damit nicht abgesprochene Aufrufe in Zukunft unterblieben.
Aus dem Konflikt war zugleich Neues entstanden: Als Gruppenvertreter ihre Protesterklärungen nicht in der Kirche vortragen konnten, zogen sie nach draußen und verlasen sie dort. Die Kundgebung auf dem Nikolaikirchhof geriet zu einem Zwischenschritt zur Demonstration.
Keine Gewalt! – die Friedliche Revolution von 1989
Wie im Vorjahr in Berlin begann auch 1989 mit der Verhaftung Oppositioneller, die am 15. Januar am Rande der staatlich organisierten Liebknecht-Luxemburg-Gedenkveranstaltung demonstrierten. In Leipzig demonstrierten – nicht genehmigt – rund 800 Demonstranten unter der Rosa-Luxemburg-Losung Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden für politische Reformen in der DDR; 53 wurden verhaftet. Es fanden tägliche Fürbittandachten statt, und tatsächlich konnten die Inhaftierten nach intensiven Verhandlungen wieder frei kommen.
Am 7. Mai standen Kommunalwahlen an, von denen jeder schon im Vorfeld ahnte, dass das Wahlergebnis gefälscht sein würde. Doch die Bereitschaft, dies ein weiteres Mal hinzunehmen, war dahin. Noch am Abend des Wahlsonntages versammelten sich 1.500 Demonstranten auf dem Leipziger Markt, 120 von ihnen wurden sofort verhaftet. Vom nächsten Tag an war die Nikolaikirche jeden Montag zur Friedensgebetszeit von Polizeikräften eingekesselt.
Einen Monat vor dem Kirchentag der Sächsischen Landeskirche in Leipzig spitzte sich die Lage weiter zu. Aufgrund der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni durch Panzerverbände stieg auch hier die Angst, dass die Sicherheitskräfte nicht vor Gewalt zurückschrecken würden. In Rückbesinnung auf das jahrelange, beharrliche Bemühen um Friedfertigkeit und ein konstruktives Sich-Einbringen wurde in den Tagen danach die Botschaft der Bergpredigt zu dem Slogan verdichtet, der fortan alle oppositionellen Aktivitäten bestimmte: Keine Gewalt!
Nach der Massenflucht im Sommer, als tausende Menschen über Ungarn das Land verließen, gründeten sich alternative Bündnisse und Parteien, wie das Neue Forum. Die Staatsmacht wurde zunehmend nervös und bestellte erneut die Kirchgemeindeleitung ein; sie drang darauf, die Friedensgebete nach der Sommerpause nicht fortzuführen. Der Kirchenvorstand von St. Nikolai stärkte seinen Pfarrern jedoch den Rücken und beschloss die Weiterführung der Friedensgebete.
Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause fand am 4. September während der Leipziger Herbstmesse statt. Vor laufenden Kameras westlicher Medienvertreter entrollten Aktivisten auf dem Nikolaikirchhof Transparente mit Forderungen nach Reise-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Kräfte der Staatssicherheit entrissen sie ihnen binnen Sekunden, doch gerade diese Bilder zeigten, was in der DDR los war. Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen, hielt sich die Polizei zunächst zurück. Das änderte sich – nachdem keine Westmedien mehr in der Stadt waren – schlagartig: Woche für Woche umstellten Sicherheitskräfte den Nikolaikirchhof, wurden Leute auf Lastwagen gestoßen und weggeschleppt. Die Staatsmacht ließ nichts aus, um zu demonstrieren, wie für Ruhe und Ordnung gesorgt werden sollte. Dennoch war die Dynamik des Doppelrituals aus Friedensgebet und Montagsdemonstration nicht mehr zu stoppen. Jeden Montag neu bestimmten die erlebte Gewalt und die Ermutigung zu unerschrockenem, Frieden stiftenden Handeln im Geist Jesu das Friedensgebet, das immer mehr Menschen Mut und Hoffnung auf den Weg mitgab – unter anderem durch das gemeinsame Singen von Kirchenliedern, wie dem Kanon Dona Nobis Pacem.
Und dann kam der 9. Oktober. Auf allen Kanälen war vor dem Besuch von Friedensgebet und Innenstadt gewarnt worden. Ziemlich unverblümt ließ die Staatsmacht durchblicken, dass jede Demonstration im Keim erstickt würde. Es war alles minutiös vorbereitet. Der Schießbefehl war vorab schriftlich erteilt. In den Seitenstraßen standen 10.000 schwerbewaffnete Kräfte bereit.
Auf der anderen Seite standen Menschen, die wussten, dass sie alles riskierten. Aber sie überwanden ihre Angst. Als sie mit nichts als Kerzen in den Händen auf die draußen Wartenden trafen, formierte sich eine schweigende Demonstration. Der in der Kirche eingeübten Gewaltlosigkeit wurde so Ausdruck verliehen. Hände, die eine Kerze halten und die Flamme vorm Verlöschen schützen, können keine Pflastersteine werfen. Als die Menge der mehr als 70.000 Demonstranten als neue zivile Gesellschaft freier Menschen symbolisch den Ring um die Innenstadt schloss, und die Staatsmacht vor der Gewaltlosigkeit zurückwich, endete eine Epoche, und eine neue begann. Von nun an gab es kein Zurück. Es gelang etwas, das es in der deutschen Geschichte, ja der europäischen Geschichte noch nie gegeben hatte: eine friedliche Revolution ohne Blutvergießen. Eine Revolution, die aus der Kirche kam und vom Geist der Bergpredigt getragen wurde von vielen.
Das Friedensgebet geht weiter
Die Friedliche Revolution 1989 und die deutsche Wiedervereinigung stellten die Friedensgebete in völlig neue Kontexte. Weil zuvor in der DDR die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt war, hatten sich in den 1980er Jahren viele Menschen zum gemeinsamen Protest unter dem Dach der Kirche versammelt. Nun konnten Basisgruppen und ihre Mitglieder sich frei in Bürgerinitiativen, Vereinen oder Parteien engagieren und so ihren Beitrag zum Aufbau einer neuen Gesellschaft leisten.
Die Friedliche Revolution hatte die Unterdrückung durch das diktatorische Regime überwunden, und viele zentrale Forderungen waren in der Folgezeit erfüllt worden. Dennoch sind viele Herausforderungen geblieben und neue kamen hinzu, denen man sich mit Friedensgebeten und den daraus entstehenden Aktionen widmete.
Im Zuge der Auflösung der verstaatlichten DDR-Wirtschaft wurden zahlreiche Großbetriebe geschlossen, und viele Menschen verloren ihre Arbeit. 1991 wurde in Konsequenz der auch in den Friedensgebeten thematisierten Arbeitslosigkeit die Kirchliche Erwerbsloseninitiative Leipzig (KEL) an der Nikolaikirche gegründet.
Ein bleibendes Problem stellte der Rechtsextremismus dar, welcher damals offen in der Gesellschaft zutage trat.
Auf internationaler Ebene lösten zunächst der Kosovokrieg und die beiden Irakkriege große Sorge und Betroffenheit aus. Dies wurde in vielen Friedensgebeten thematisiert, an die sich Mahnwachen und Demonstrationen anschlossen. Das Thema Krieg fand seither kein Ende.
Bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2008 war Pfarrer Christian Führer mit der Koordination der Friedensgebete betraut. Heute liegt die Verantwortung bei Nikolaipfarrer Bernhard Stief. Derzeit teilen sich über 30 verschiedene Gruppen und Bürgerinitiativen die Gestaltung. Dementsprechend vielfältig ist das inhaltliche Spektrum. Es berührt Themen von der Mahnung gegen Krieg und Armut über Fragen der Integration bis hin zum Tier- und Umweltschutz.
Die Friedensgebete haben nach wie vor nicht an Aktualität eingebüßt. Das zeigte sich 2015 erneut in aller Deutlichkeit etwa in der Debatte um die Zuwanderung von Flüchtlingen und die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit. Die Botschaft der Gewaltlosigkeit aus der Bergpredigt ist zeitlos gültig und wird von weiten Teilen der Gesellschaft geteilt, wie der starke Zulauf bei den Friedensgebeten bezeugt, in denen es um diese und andere brennend aktuelle Themen geht.
Die Geschichte des Friedensgebets zeigt, dass das Prinzip der Gewaltlosigkeit zu einem wirksamen Mittel gegen aggressiv ausgetragene Konflikte werden kann, das auch aus der Kirche hinaus zu wirken vermag. Die Kirche selbst kann in schwierigen Situationen und Zeiten der Ratlosigkeit ein Zufluchtsort sein. Wo Probleme, Sorgen und Angst offen vor Gott ausgesprochen werden können, entstehen Hoffnung und Mut. Wege zur Lösung tun sich auf – Gottesdienst im Alltag der Welt.