Das Glockenprojekt der Nikolaikirche Leipzig

Newsletter Nr. 4 – März 2018

Nomen est omen – Die Glocken für die Nikolaikirche haben Namen

Guten Tag, liebe Freunde der Nikolaikirche,

Sie haben Namen – die neuen Helden von St. Nikolai. Es wird noch einige Zeit dauern, bis die neuen Glocken in den beiden Kirchtürmen schwingen werden, bis sie rufen und verkünden und uns durchs Jahr geleiten können. Aber benennen können wir sie schon: Osanna, die Größte, Gloria und Kyrie, die zwei Erhaltenswerten von 1964, Credo, Pax, Benedictus, Sanctus und Agnus Dei, die Kleinste – so werden sie heißen. Und was sagen uns diese Namen? Zu welchen Anlässen wird welche Glocke ertönen? Und wie werden sie gestaltet? Wir haben nachgefragt.

Acht Glocken wird das neue Geläut haben, sechs davon werden neu gegossen. Jede Glocke hat einen Namen und damit einhergehend eine liturgische Funktion – also einen bestimmten Einsatzzweck. Zum Beispiel wird die Auferstehungsglocke sonntags läuten, die Trauglocke zu einer Trauung, die Taufglocke zu einer Taufe, weitere Glocken können sich einreihen ins Geläut. Und zu ganz besonderen Anlässen tönen sie alle zusammen.

400 oder 500 Jahre können die neuen Glocken klingen, wenn keine Gewalt und kein Krieg sie zerstört. Viele Generationen werden sie in dieser Zeit hören und viele werden lesen, was auf ihnen geschrieben steht und die Bilder interpretieren, die zu erkennen sind. Und sich damit ein Bild unserer jetzigen Zeit machen.

Die Kirchgemeinde St. Nikolai schreibt die Gestaltung der Glocken aus

Ortsbesichtigung der Künstler und Verantwortlichen

Ortsbesichtigung der Künstler und Verantwortlichen

Sechs Künstler sind eingeladen, Vorschläge zur Gestaltung der Glocken zu unterbreiten. Vorgegeben sind Name und Widmung, also eine biblische Verheißung, für jede der sechs neuen Glocken. Es ist also Schrift aufzubringen, die kann ergänzt werden durch Bilder, Zeichnungen oder Ornamente. Und auch die Verbindung zur Nikolaikirche soll deutlich werden.

„Es muss ein Gesamtkonzept für das gesamte Geläut erkennbar sein, denn es ist eine Einheit – in klanglicher wie in gestalterischer Hinsicht. Aber jede Glocke für sich hat eine Bedeutung und eine Funktion und die soll durch die Gestaltung versinnbildlicht werden, erkennbar und lesbar sein. Und nicht zuletzt werden die Glocken auch Zeugnis unserer jetzigen Zeit sein“, beschreibt der Glockensachverständige Roy Kress die Anforderungen.

Ein Künstler kann auch sich ein Denkmal setzen

Alle sechs Eingeladenen haben die Herausforderung angenommen. Es ist eine spannende Arbeit, eine intensive Auseinandersetzung mit dem Jetzt, der Zukunft und der Geschichte einer Kirche – und im Falle dieser Kirche sogar mit der Geschichte einer Stadt und einer ganzen Epoche. Denn die besondere Bedeutung der Nikolaikirche für die Friedliche Revolution von 1989 wird möglicherweise auch die Künstler und die Glockengestaltung beeinflussen.

Kirchenglocken zu gestalten gehört kaum zum täglichen Handwerk eines Künstlers. So oft werden neue Glocken gar nicht benötigt. Umso spannender ist die Aufgabe. Und zumindest für einen der Wettbewerbsteilnehmer gibt es die Chance, ein Werk zu schaffen, „dass auch noch in mehreren Hundert Jahren ein signifikantes Zeichen seiner Schöpfer und der Auftrag gebenden Kirchgemeinde abgibt“, so will die Ausschreibung zu künstlerischen Höhenflügen motivieren.

Beispiele einer anderen Arbeit: Zeichnungen der Künstlerin Maria Ondrej für die Friedensglocke der Friedenskirche, Leipzig Gohlis

 

Jede Glocke hat eine besondere Bedeutung

Die Gestaltung wird sich aus den drei Themenschwerpunkten Name, liturgische Läutefunktion und biblischer Sinnspruch ableiten. Auch die beiden erhaltenswerten Bestandsglocken von 1964 (Nr. 2 und 3) bekommen neue Namen und Funktionen, allerdings auf einer Hinweistafel, sie werden nicht künstlerisch bearbeitet. Das neue, achtstimmige und insgesamt über 10 Tonnen wiegende Geläut wird folgende Bestimmungen haben:

  • 1 – Osanna – Festtagsglocke – Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren. (Lukas 11,28)
    Auf dieser Glocke wird auch ihre lange Geschichte vermerkt: der Erstguss 1452, die Erneuerung 1634 und 1869, die kriegsbedingte Einschmelzung 1917.
  • 2 – (Bestand, bleibt unverändert) neu: Gloria – Auferstehungsglocke – Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. (Lukas 6,21)
  • 3 – (Bestand, bleibt unverändert) neu: Kyrie – Gebetsglocke – Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. (Matthäus 5,6)
  • 4 – Credo – Bekenntnisglocke – Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. (Matthäus 5, 10)
  • 5 – Pax – Friedensglocke – Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. (Matthäus 5, 9)
  • 6 – Benedictus – Segensglocke – Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. (Matthäus 5,7)
  • 7 – Sanctus – Trauglocke – Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. (Matthäus 5, 8)
  • 8 – Agnus Dei – Taufglocke – Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Johannes 20, 29)

Anlehnung an Bachs h-Moll-Messe

Ein Arbeitskreis einiger Sach- und Fachverständiger hatte sich über die Namen, Funktionen und Widmungen ausführliche Gedanken gemacht. “Es gibt viele Möglichkeiten für ein solches Programm, auch biblische oder Namen aus der Kirchengeschichte kann man vergeben. Besonderheiten der Kirche, Ornamente wie unser Palmenzweig oder auch die Gemälde von Oeser in der Kirche spielten bei unseren Überlegungen eine Rolle“, erläutert Pfarrer i. R. Hans-Michael Sims, der im Arbeitskreis mitwirkt.

Doch bilden nun Geschichte und Musik die Basis. Schon 1452 gab es eine große Glocke namens Osanna, jetzt wird es wieder eine geben. Der andere entscheidende Beweggrund ist Johann Sebastian Bach, der 1723 in der Nikolaikirche als Thomaskantor (auch zuständig für die Nikolaikirche) eingeführt wurde „und quasi als Lokalheiliger gilt“, wie Sims scherzhaft ergänzt. Musik ist für ihn Gottesdienst, beschrieb einst Albert Schweitzer den Menschen Bach. Das neue Glockenprogramm orientiert sich an Bachs h-Moll Messe, deren Teile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Osanna, Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem lauten und in ihrer Reihenfolge dem Verlauf eines Gottesdienstes folgen. „Und deren beide ersten Teile wahrscheinlich im April 1733 in der Nikolaikirche uraufgeführt wurden“, betont Sims.

Zu den Namen und Funktionen wurden Bibelworte gewählt. Alle acht sind Seligpreisungen, die schon bei den Friedensgebeten eine große Rolle gespielt haben. Sie waren in den Jahren von 1980 an sehr wichtig und sind es noch immer. Damit spiegelt sich auch die besondere, friedenstiftende Rolle der Nikolaikirche, lokal wie weltweit, in der Widmung der Glocken wider.

„Die Glocke, die damals zu den Friedensgebeten geläutet hat, ist tief im Bewusstsein der Leipziger verankert“, meint Pfarrer Sims. Die Hoffnung ist groß, dass die Menschen mit der Zeit auch die anderen aufnehmen und erkennen werden: „Ah, die Pax läutet!“ Und dass die Menschen zu Ostern nach Leipzig auf den Nikolaikirchhof strömen und zuerst der Osanna und dann dem gesamten großen Geläut lauschen werden. Vor dem großen Lauschen ist allerdings noch die Läuteordnung festzulegen, also wann wie lange welche Glocken zu hören sind. „Mit zunehmender Glockenzahl steigen natürlich die Möglichkeiten“, freut sich Roy Kress und schaut der Qual der Wahl ins Angesicht: „um die 256 Varianten dürften möglich sein“. Die Klangfolgen sollen harmonisch und schön sein. „Denn auch wenn man nicht alles versteht, Namen, Liturgie und Melodie nicht kennt, findet das Schöne doch immer einen Weg zu den Menschen“, sagt Pfarrer Sims.

Die Künstler machen sich ans Werk

Die einzige Frau unter den teilnehmenden Künstlern, Maria Ondrej, ließ uns mal in die Karten blicken – natürlich nicht in die Karten dieses Projekts. Aber so grundsätzlich in die Vorgehensweise und das Handwerkzeug. Maria Ondrej studierte Plastik und Bildhauerei, ist in Leipzig geboren, lebt und arbeitet hier, mit inspirierenden Ausflügen: Sie studierte auch in England, unterrichtet in New York, stellt in Österreich aus, begleitet Projekte in Australien und Paris. Sie hat auch schon einige Glockenzieren entworfen und realisiert und sieht es „als Ehre, das Projekt mitzugestalten“.

„Ein guter Klang ist das Wichtigste, doch eine gute Gestaltung trägt eine Botschaft aus unserer Zeit weit in die Zukunft – für die Menschen, die in 400 oder 500 Jahren draufschauen“, sinniert Maria Ondrej über ihre Motivation. „Kunst ist immer ein Statement vom hier und jetzt, eine Glocke ist es in besonderer Weise.“  Ondrej arbeitet sich unverzagt durch Bücher und Unterlagen, lässt sich von Bauwerk, Geschichte und Erzählungen inspirieren, überlegt, was die Widmungen sagen sollen und wie man sie bekräftigen und hinaustragen kann.

Wie geht sie vor? „Ich sammle. Gedanken, Ideen, Notizen, Skizzen. Ich bin innerlich permanent damit beschäftigt, bemale auch mal Einkaufszettel. Da fabriziere ich eine riesige Zettelsammlung. Nach zwei drei Wochen schmeiße ich meine Familie raus und breite alle Zettel aus, sortiere, trenne mich von Ansätzen, entwickle andere weiter.“ In dieser frühen Phase verfolgt sie mehrere Gestaltungsvarianten, bevor sie einen Favoriten wählt und bis zur Präsentationsreife ausarbeitet.

Beispiel für die letzten Arbeitsgänge: Maria Ondrej platziert die Wachszier auf die „verlorene“ Glocke (warum die so heißt, erfahren Sie in einem späteren Newsletter). Zuvor erstellte sie ein Muster aus Ton, davon eine Silikonform, goss diese mit Wachs aus. Schriften wurden aus Wachsplatten geschnitten.

Schwere Entscheidung

Ende April 2018, nach vier kreativen Monaten, dürfen die Künstler ihre Überlegungen und Gestaltungsvorschläge präsentieren. Eine Jury muss dann entscheiden, welche Arbeit den Anforderungen am besten entspricht. Sieben sachlich oder fachlich involvierte Personen bilden das Gremium: Mitglieder der Kirchgemeinde, des Kirchenvorstandes und der Landeskirche Sachsen, Theologen, Glockensachverständige und Vertreter des Bundes Bildender Künstler und der Hochschule Bildender Künstler Halle Burg Giebichenstein. Bis zum Sommer wird dann intensiv weiter gearbeitet; in enger Abstimmung mit der Kirchgemeinde vollendet der Künstler den ersten Entwurf zu einer fertigen Vorlage.

Die Wettbewerbsarbeiten und gezeichneten Modelle in imposanter Originalgröße werden von Ende April bis voraussichtlich Ende Mai öffentlich zugänglich ausgestellt, unter anderem auch im neuen Rathaus in der unteren Wandelhalle. Weitere Informationen zum Glockenprojekt finden Sie unter: glockenprojekt.nikolaikirche.de

Verfasser: Susan Künzel
Fotoaufnahmen: Maria Ondrej
Gesprächspartner: Roy Kress, Glockensachverständiger der Landeskirche Sachsen; Maria Ondrej, Leipziger Künstlerin; Pfarrer i.R. Hans-Michael Sims, Vertreter der Gestaltungsgruppe der Kirchgemeinde