Das Glockenprojekt der Nikolaikirche Leipzig

Newsletter Nr. 3 – Dezember 2017

Süßer die Glocken nie klingen … – Dank der Türmer auf St. Nikolai

Die Nikolaikirche feierte im Jahr 2015 ihr 850-jähriges Bestehen. Nicht ganz so alt sind die Glocken, die derzeit in den Türmen der Kirche läuten und zur Andacht rufen, zum Gedenken mahnen, hohe Feste verkünden und uns sagen, was die Stunde geschlagen hat. Nun aber ist die Statik nicht mehr sicher, die Technik veraltet und der Klang schon lange keine Ohrenfreude mehr. Tragwerke und Glocken müssen dringend saniert werden.

 Wir wollen mit Ihnen gemeinsam ein neues Geläut weihen – zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution am 9. Oktober 2019. Helfen Sie mit – Ihre Unterstützung wird zu Klang, zu Botschaft, zu Erinnerung.

 Mit unserem Newsletter informieren wir Sie gerne jedes Quartal über den Fortschritt des Projektes und über Geschichten rund um die Glocken der Nikolaikirche.

Guten Tag, liebe Freunde der Nikolaikirche,

in 45 Metern Höhe, kurz unter der Uhrschlagglocke im Kirchturm der Nikolaikirche, da wohnten einst die Türmer. Sie hatten einen wunderbaren Blick über die Stadt. Aber von ihrem harten Leben kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Schon allein die vielen Stufen! Und wie haben sie ihren Christbaum in diese Höhe transportiert? Wir haben uns auf Spurensuche begeben – oben im Turm und in alten Papieren.

„Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit …“ So tönt es in diesen Tagen und Wochen in Leipzigs Straßen, auf dem Weihnachtsmarkt, in den Stuben und Kirchen. Den lieblichen Schall der Kirchenglocken schickt heute der Küster per Knopfdruck über die Dächer der Stadt. Früher aber war das harte Arbeit. Ein Besuch vor Ort sorgt für Eindruck und Ausblick.

Steigt man die schmalen und gewundenen Treppen im Nordturm der Nikolaikirche hinauf zur Glockenstube, ist das schon etwas aufregend – jahrhundertealte Bohlen unter den Füßen, Staub und Geschichte in der Luft. Es nimmt einem den Atem. Das liegt vielleicht an mangelnder Kondition, wohl aber auch an den drei ehrwürdigen Glocken, die da plötzlich über einem hängen. Und riesig erscheinen – so von Angesicht zu Angesicht.

Treppe zur Türmerwohnung – nur nichts beim Einkaufen vergessen

Glocken läuten

Fürs Spielen dieser faszinierenden Instrumente zuständig war der Türmer; in St. Nikolai waren die Berufe des Glöckners und Türmers vereint in einer Person. Von 1452 an sind Namen verzeichnet, gegeben hat es Türmer gewiss auch schon davor. Geläutet wurde zum Heiligen Abend und allen anderen Fest- und Feiertagen des Kirchenjahres, zum Gottesdienst, auch zu Geburten, Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Bei Trauergeläut für Fürsten gab es fürstliche Trinkgelder. Wie oft, zu welchen Uhrzeiten, wie lange und welche Glocken zu welchen Anlässen zu erklingen hatten, gab die Läute-Ordnung vor.

Aber auch zu weltlichen Anlässen wurde geläutet, zum Beispiel die „Caveteglocke“, die sagte: Hütet euch! Sie zeigte der Stadt die Polizeistunde an. Gegen Gewitter wurde sogar noch im Donner geläutet. Es sollte die Bewohner warnen, aber auch Blitzschlag, Sturm und Unwetter fernhalten. Man glaubte, die gesegneten Glocken könnten dämonische Kräfte abwehren.

Der Turm schwingt mit

Nun war die Arbeit des Türmers aber nicht damit getan, pünktlich an den Seilen zu ziehen. Er musste die Tonfolgen kennen und sie zum Klingen bringen können. Wirklich üben konnte er das Läuten nicht. Und machte er einen Fehler, war das überall zu hören. Falsches Läuten konnte die Glocke beschädigen. Oder auch den Turm, denn der schwingt ja mit. Passierte das in ungünstigem Rhythmus, war die Statik des Turmes gefährdet. So wurden für das Läuten zuverlässige Personen gesucht. Der Pfarrer wählt seinen Türmer sorgsam aus: Er sollte fleißig und gehorsam sein, regelmäßig und akkurat arbeiten, auch lesen und schreiben können und einen christlichen Lebenswandel führen.

Ein lukrativer Posten war es allerdings nicht – weder gut angesehen, noch gut bezahlt. Die Türmer lebten in ärmlichen Verhältnissen, mussten oft mit weiteren Arbeiten wie Schuhe-Flicken oder Abschreiben ihr klägliches Entgelt aufbessern. Schließlich hatte manch einer, wie der vorletzte Türmer Johann Gottlieb Näther, eine Familie zu versorgen.

Der vorletzte Türmer Gottlieb Näther um 1910. Seine Enkelin besuchte vor einigen Jahren eine Turmführung und stellte das Foto zur Verfügung. Diese Stube kann man heute noch besichtigen, zwar ohne das alte Mobiliar, aber mit genügend Sitzmöglichkeiten zum Verschnaufen.

Hühner am Trockenklosett

Die Turmromantik lässt spürbar nach, stellt man sich vor, täglich den Einkauf hochschleppen zu müssen. Im Raum neben der Glockenstube findet sich allerdings eine Seilwinde. Mit deren Hilfe konnten die Türmer zumindest große und schwere Güter über den Ausleger am Fenster hochziehen. Vielleicht sogar einen kleinen Christbaum? Dieser Raum hat in einer Ecke einen Verschlag, dahinter ein Plätzchen für die Notdurft. Und er beherbergte seinerzeit wohl auch ein paar Hühner. Vielleicht hin und wieder auch eine Weihnachtsgans …

Mit einer Seilwinde konnten schwere Lasten heraufbefördert werden.

Die Seilwinde befindet sich zwischen den Glockenstuben von Nord- und Südturm in dem achtseitigen Mittelturm. Dieser wurde erst 1555 aufgesetzt – unter Leitung des bekannten Bürger- und Baumeisters Hieronymus Lotter – und brachte die Kirche auf stattliche 75m. Zu der Zeit entstand die Türmerwohnung. Die ermöglichte nun einen dauernden Aufenthalt auf dem Turm – und damit einen zuverlässigen Rund-um-die-Uhr-Dienst der Türmer.

Uhrwerk von Bernhard Zachariä, seit 1916 in Betrieb

Zeit anzeigen

Darüber in der Laterne wurde eine Uhrschlagglocke eingehängt, die 1556 das erste Mal geschlagen haben soll. Und fortan gehörte es zu den Aufgaben des Nikolaitürmers, den Leipziger Bürgern die Zeit anzuzeigen. Im öffentlichen Bereich waren Uhren mit Ziffernblättern kaum verbreitet. Die Menschen erfuhren nur von den Türmen, was ihnen die Stunde geschlagen hatte. Zuerst von der Rathausuhr, dann von der Hand der Türmer, schön nacheinander, allen voran die Nikolaikirche. 1916 wurde ein mechanisches Uhrwerk installiert, das noch heute in Betrieb ist. Immer zu vollen Stunde setzen sich die Hebel in Bewegung, rattert die Kette und wird die Uhrglocke angeschlagen.

Fast zwei Jahrhunderte nach Einrichtung der Türmerwohnung erfolgte ein Umbau des Mittelturmes. Nach Entwürfen des Obervogts und leitenden Stadtarchitekten Johann Michael Senckeisens bekam der Turm 1730 bis 1734 seine barocke Haube. Im Turm entstand eine weitere Türmerwohnung für eine zweite Familie. Das erleichterte den Rund-um-die-Uhr-Dienst.

Feuer bestürmen

Die wichtigste Aufgabe eines Türmers war rund um die Uhr auszuführen: die Brandwache. Die Straßen waren eng und mit viel Holz bebaut. Allerorten wurde mit offenem Feuer hantiert. Die Gefahr, dass sich Feuer ausbreiteten, war sehr hoch. Der Türmer hatte einen guten Rundumblick. Jede Stunde musste er seine Runde drehen und Ausschau halten. Er musste auch einen Eid darauf leisten, „gut auf Feuer und deren Ungemach zu achten“. Im Falle eines Brandes, so sah es die städtische Feuerordnung vor, hatte der Türmer das Feuer zu „bestürmen“. Er musste die große Glocke mit dem Hammer anschlagen und zwar so lange, bis die Gefahr vorüber war. Bei Tage war das „rote Feuerfähnlein mit Zimmeln und Schellen“, das der Rat der Stadt 1540 angeschafft hatte, in Brandrichtung hinauszuhängen, bei Nacht eine brennende Laterne. Ratsangehörige und zugeordnete Bürger kamen beim Klang der Sturmglocke hinzu, um mit dem Türmer Wache zu halten.

Ab 1865 wurden Telegrafenanlagen eingeführt. Beim Türmer war ein Fernsprecher installiert, den er bedienen können musste, um den Brand an die Hauptwache der städtischen Feuerwehr zu melden. Das diente der Sicherheit der Stadt. Und der Kontrolle der Türmer. Der Rat der Stadt ließ bereits 1876 zählen, welcher Türmer wie viele Brände als Erster meldete. Da schnitt wohl der Nikolaitürmer schlechter ab: 1915 wurde seine Stelle vom Rat der Stadt eingezogen, da er wohl in den 25 Jahren davor nur einmal als Erster einen Brand vermeldet hatte.

Den Rundumblick kann man – nach 222 Stufen und in ca. 45 Metern Höhe – auch heute sehr gut genießen.

Blicke übers Kirchendach und die Stadt

Nichts vom Turm kippen

Abgesehen vom Ausblick war das Leben da oben recht spartanisch – schlecht zu heizen, kein fließend Wasser, kein Anschluss an die Kanalisation. In den Instruktionen für die Türmer hieß es: „kein Spülichtwasser, Kehricht oder anderen Unrat vom Turm zu kippen“. Ja, die Lebensmittel waren nicht nur hoch, sondern auch hinunter zu tragen. Die Türmer ohne Familie hatten als Gefährten nur Stille und Einsamkeit. Und die Tauben und vielleicht ein paar Ratten. Hart war die Pflicht, ständig präsent sein zu müssen. Ohne Erlaubnis des Rates durfte der Türmer nicht außerhalb der Stadt übernachten, geschweige denn verreisen. Die Feuerwache war rund um die Uhr zu halten, darum gab es einen Beiwächter, und auch die Familienangehörigen beteiligten sich am Dienst.

Nicht nur zum Heizen – die sogenannte Küchenmaschine

Von den Härten erfährt man in einem Brief des Türmers Carl Menge 1876 an den Rat der Stadt. Er arbeite täglich 18 bis 20 Stunden, auch an Sonn- und Feiertagen, und habe in seinen zwanzig Türmerjahren keinen einzigen vollen Tag Urlaub gehabt. In den letzten acht Jahren sei es immer schwieriger geworden, passende Beiwächter zu finden, es meldeten sich nur notorische Trunkenbolde, entlaufene Sträflinge oder gänzlich verkommene Subjekte. Der Beiwächter müsse schreiben und den Stadtplan lesen können, den Telegrafendienst erlernen usw. Davor aber schrecken Leute zurück, die kaum ihren Namen schreiben könnten. Außerdem sei der Dienst streng: karger Lohn, absolute Monotonie, Einsamkeit und Abgeschlossenheit, schlechte Wohnräume und dazu die ständige Bereitschaft. Nur seine schwache Frau unterstütze ihn, er sei erschöpft und bitte um Hilfe.

Der heilige Nikolaus in der Türmerwohnung

Die letzten Türmer

Beim großen Geläut unterstützten den Türmer Läutegehilfen. Karl August Pospich, der von 1914 an fürs Läuten zuständig war, unterstand eine Läutemannschaft von 13 Männern. Für die Großglocke wurden vier Männer gebraucht, für die zweitgrößte zwei, für die übrigen jeweils ein Mann. Pospich war nun Glöckner und nicht mehr für die Brandwache zuständig. Somit fiel auch ein Teil der Einnahmen weg. 1916 musste er oberndrein die Türmerwohnung räumen – aus brandschutztechnischen Gründen. Sieben Jahre später durfte er jedoch wieder einziehen, da ihm die Miete andernorts für ihn nicht erschwinglich war. Bis Anfang 1931 läuteten er und sein – fast tauber –  Hilfsglöckner Ernst Robert Schurig die Glocken per Hand. Dann wurden elektrische Läutemaschinen installiert. Die beiden aber durften bis zu Pospichs Tod 1932 noch oben wohnen. Ab dann war die Türmerwohnung verwaist, nur der Heilige Nikolaus lebt nun noch dort.

Der nächste Brief erscheint im März 2018. Dann geht es um die neuen Glocken. Wir wagen einen Blick hinter die Kulissen und fragen die Planer. Weitere Informationen zum Glockenprojekt finden Sie unter: glockenprojekt.nikolaikirche.de

Quellen:

Katrin Löffler „Der Abstieg – vor hundert Jahren verließen Leipzigs Türmer ihren Wachposten.“
Friedemann Szymanowski „Die Glocken der Nikolaikirche“
Friedrich Ostarhild  „Geschichte des Gotteshauses und der Gemeinde 1160 – 1960“
www.leipzig-lexikon.de
Vereinigung Leipziger Architekten und Ingenieure „Leipzig und seine Bauten“, Leipzig 1892
Cornelius Gurlitt „Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen“, 17. Heft „Stadt Leipzig“, 1895

Verfasser: Susan Künzel